Archive für 14.11.2010

Tartaros

Ich war im Himmel - und in der Hölle. Und ich rede dabei nicht von Köln und den „Jecken“, die seit Donnerstag wieder ihre Stadt in eine Hölle verwandeln und normal gebliebene Mitmenschen mit Musik und platten Witzchen quälen - obwohl das schon recht „höllisch“ ist. Nein, ich meine die echte(n) Hölle(n) und Himmel. Als ich heute morgen wach wurde, stand die Erkenntnis so klar vor meinen Augen, als hätte ich es gerade erlebt. Wohl jeder kennt das Gefühl, wenn man nach dem Aufwachen leicht desorientiert ist und ein paar Augenblicke zum Wachwerden braucht.

Aber bei mir war es gestern anders. Es war nicht so wie sonst, mit nebulösen Gedankenfetzen und unklaren Bildern. Vielmehr waren meine Gedanken klar und präzise. Wie „normale“ Erinnerungen, und außerdem sehr detailliert. Das Resultat ist, dass ich somit sehr genau darüber informiert bin, wie es in den Himmeln und Höllen aussieht. Ja, der Plural ist korrekt. Nicht überraschend, wenn man mal genauer drüber nachdenkt!

Zählt man die Verstorbenen dieser Welt zusammen seit es Menschen gibt, kommt man auf eine sehr stattliche Zahl. Da ist eine Unterteilung unumgänglich! Dazu überaus facettenreich ausgestattet, mit solch illustren ‘Mitgliedern’ wie z.B. Ghandi oder Kublai Khan. Einleuchtend ist dabei auch, dass eine Hölle für die große Bandbreite von Bösen absolut nicht ausreicht. Oder fänden Sie es richtig, Adolf Hitler und George W. Bush in dieselbe Hölle zu stecken? Wenn es bei George so weit ist, kommt er bestimmt in die gleiche Fachrichtung wie unser Adolf, aber wohl nicht in die selbe ‘Klasse’.

Ich war oben, im Himmel. Aber leider nicht ganz oben. Das merkte ich daran, dass mir zwar jeder erdenkliche Luxus zur Verfügung stand. Jedoch konnte ich mich noch immer nicht bewegen, was mich trotz der vielen hilfreichen Hände extrem frustete. Süßes Nichtstun will erst verdient werden. So kam, was kommen musste: ich wurde rausgeworfen. Keine Ahnung, ob wegen meines kontinuierlichen Meckerns oder weil ich nicht „Hosiannah“ rufen und den Herrn preisen wollte…

So landete ich in einer Hölle. Entgegen den landläufigen Vorstellungen bemerkte man das nicht an hohen Temperaturen, dem Schwefelgeruch oder der Tapetenfarbe, sondern an vielen Kleinigkeiten. Für mich sah es erstmal aus wie zuvor, sogar die Inneneinrichtung war auf den ersten Blick die gleiche. Dass ich mich nicht verbessert hatte, stellte ich nach einigen Stunden fest; niemand ließ sich bei mir blicken, und ich konnte keinen Finger rühren oder rufen. Nach einer gefühlten Ewigkeit - und nachdem ich jedes Zeitgefühl verloren hatte - erschien doch noch jemand. Eine betörend schöne Frau in einer Krankenschwesterntracht, wie man sie bei Kostümfesten sieht. Heiss, nicht mal die offenherzige Bluse fehlte. In der Hand hielt sie ein Glas Apfelsaft. Sie trat, ohne ein Wort zu sagen, an meinen Sessel und reichte mir das Glas. Meine Lippen schlossen sich um den Trinkhalm und ich begann zu trinken. Ich hätte es wissen müssen: ehe der erste Tropfen meine Lippen erreicht hatte, senkte sie das Glas. Der Halm rutschte zwischen meinen Lippen hindurch, worauf sie sich entschuldigte und das Glas wieder leicht anhob. Das Spielchen wiederholte sich so lange, bis ich meinen Kopf und den Trinkhalm zwischen meinen Lippen halten konnte. Sie ließ mich zurück, ohne dass ich auch nur einen Tropfen an meinen Lippen gespürt hätte. Fand ich zwar wirkungsvoll, allerdings nicht sehr kreativ. So etwas wurde vor ungefähr 1500 Jahren schonmal beschrieben: die Qualen des Tantalos, der die Allwissenheit der Götter testete und der (und seine Nachkommen) dafür grausam bestraft wurde. Nachzulesen in Homer’s Odyssee:

Strafe
Die Götter verstießen Tantalos in den Tartaros und peinigten ihn dort mit ewigen Qualen, den sprichwörtlich gewordenen Tantalosqualen.

„Auch den Tantalos sah ich, mit schweren Qualen belastet.
Mitten im Teiche stand er, den Kinn von der Welle bespület,
Lechzte hinab vor Durst, und konnte zum Trinken nicht kommen.
Denn so oft sich der Greis hinbückte, die Zunge zu kühlen;
Schwand das versiegende Wasser hinweg, und rings um die Füße
Zeigte sich schwarzer Sand, getrocknet vom feindlichen Dämon.
Fruchtbare Bäume neigten um seine Scheitel die Zweige,
Voll balsamischer Birnen, Granaten und grüner Oliven,
Oder voll süßer Feigen und rötlichgesprenkelter Äpfel.
Aber sobald sich der Greis aufreckte, der Früchte zu pflücken;
Wirbelte plötzlich der Sturm sie empor zu den schattigen Wolken.“

Zu Durst und Hunger kam auch die ständige Angst um sein Leben, da über seinem Haupt ein mächtiger Felsbrocken jeden Moment herabzustürzen und ihn zu erschlagen drohte.

Meine Krankenschwester konnte wohl meine Gedanken lesen, denn sie drehte sich nochmal um und schenkte mir ein Lächeln, wissend, betörend und hämisch. Sie warf ihren Kopf zurück, dass ihre roten Haare flogen. Noch lange, nachdem sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte, glaubte ich, ihr Kichern zu hören.

Ich war definitiv in einer Hölle gelandet, das hatte ich realisiert. Mit meiner persönlichen Folterschwester, die gerade erst begonnen hatte, Gemeinheiten aus ihrem Repertoire auszupacken. Ich war immer noch durstig, wusste aber auch, dass das noch steigerungsfähig war und werden würde.

Meine Befürchtungen bestätigten sich in den nächsten Monaten. Sie hatte gerade erst angefangen, 3000 Jahre Berufserfahrung und war bis in die Haarspitzen hinein motiviert. Ich hätte nie gedacht, dass es so viele scheinbar belanglose Dinge gab, die als Foltermethode verwendet werden können. Nur sie kannte sie alle und war begierig, mir ihr Wissen zu demonstrieren. Oft fühlte ich mich wie eine Versuchsmaus, die immer wieder in dasselbe Mäuselabyrinth gesetzt wurde, Tag für Tag. Morgens konnte ich manchmal hören, wie sie und ihre Kolleginnen vor der Tür irre kicherten. Aber bekanntlich hat alles mal ein Ende, und jetzt bin ich ein paar Klassen weiter. Ob Himmel, Hölle oder genau dazwischen, wird sich zeigen. Ich werde es berichten, sobald ich es weiß…
;-)

|